Donnerstag, 3. Dezember 2009

»A PORTRAIT OF NELLIE« by Alex Randolph

VON DR. GABRIELE STIER
THEO-BETZ-SCHULE, NEUMARKT/OPF.

NELLIE im Klassenzimmer – 
Erfahrungen einer Grundschullehrerin

Bonbonfarben, textarm, illustrationsreich – so sehen sie aus die englischsprachigen Kinderbücher, die Eingang in den Grundschulenglischunterricht finden. Anscheinend soll die Hürde der Fremdsprache durch eine überladene Aufmachung und die Fülle an visuellen Reizen versüßt werden.
Einen gänzlich anderen Weg, Kinder zur Auseinandersetzung mit fremdsprachlicher Literatur zu „verführen“ wählt Randolph mit seinem „PORTRAIT OF NELLIE“.


Alex Randolph (1925-2004) – bei der Arbeit in seinem Spieleerfinderstudio in Venedig. Den meisten Kindern ist er sicher bekannt durch sein erfolgreichstes Spiel »Tempo, kleine Schnecke!«, das im Ravensburger Verlag 1985 erschien. Auch »Sagaland« werden viele kennen, ausgezeichnet 1982 mit dem Preis »Spiel des Jahres«. Dies sind nur zwei von über 160 Spielen die sich Alex Randolph ausgedacht hat.

Bisher machte ich in meiner Praxis die Erfahrung, dass er gerade deswegen Grundschüler in vielfältiger Weise anspricht. Und zwar alle Grundschüler. Die zu Hause geförderten, sprachlich leistungsstarken, als auch die benachteiligten, die sogenannten „schwachen“ Schüler.

Schon die diskret sparsame, im verwaschen-blassen Tintenblau gehaltene Aufmachung des Covers bündelt die Aufmerksamkeit der Schüler. Einfache Flächenbegrenzungen im Schwarzweiß-Kontrast machen die Kinder mit NELLIE bekannt. Die Schüler erzählen von Mäusen, Mäuselöchern, sie reden wie von selber bald von der Maus NELLIE. Ich flechte ins Gespräch das englische Wort „mouse“ und die Bedeutung von „portrait“ ein. Wenn auch noch unausgesprochen, so ist bereits jetzt klar, dass die Maus auf dem Umschlag nicht irgendeine Maus ist, sondern eine besondere. NELLIE eben. Neugierde entsteht.

Es erwies sich als sinnvoll, jedem Kind ein Buchexemplar an die Hand zu geben, das es behalten und deswegen (um- und weiter-) gestalten kann. Mit einer Kleingruppe reicht im Sitzkreis auch das Lehrerexemplar, das die Lehrkraft dann den Kindern präsentiert bzw. das immer wieder durchgereicht wird. 

Nachdem die Kinder anhand des Covers vielfältige Vermutungen angestellt haben und ich ihre fremdsprachliche Kompetenz aufgewertet habe (die Kinder merken, ich traue ihnen zu, so ein dickes Buch, ausschließlich in Englisch geschrieben, mit mir zu lesen) beginnen wir mit dem 1. Teil. Schon allein die Beobachtung, wie achtsam die meisten Kinder ohne instruiert worden zu sein, in dem Buch blättern, macht deutlich, dass gute und ästhetische Materialqualität menschliche Verhaltensweisen entsprechend steuern kann.

Der erste Satz der NELLIE-Geschichte wird aufgrund der Zeichnung sogleich von allen Kindern richtig entschlüsselt. Voraussetzung für einen Unterricht mit NELLIE ist allerdings Zeit. Zeit, die die Kinder brauchen um die fast schon asketisch zurückgenommenen Zeichnungen auf sich wirken zu lassen und Zeit, um die dadurch vielfach angeregte Imagination bildnerisch oder sprachlich zum Ausdruck bringen zu können. 10 Jahre Schulpraxis lassen mich mittlerweile nicht mehr staunen, wenn ich beobachte, dass ausgerechnet gerade die sogenannten bzw. angeblichen Zappelphilippe (AD(H)S-Kinder) zu produktiv-schöpferischer Ruhe kommen, wenn ich im Unterricht NELLIE mit ihnen lese.
Sehr zuträglich für das Lesen und Betrachten des Buches ist auch ein geschulter, dramaturgisch gestalteter Lesevortrag der Lehrerin, unterstützt durch Mimik, Gestik, Ganzkörper. Aber bitte kein zusätzliches Bildmaterial. Bisher hat sich keines meiner Schulkinder durch ein nicht verstandenes Wort in der Beschäftigung mit und in seinem Gesamtverständnis von NELLIE stören lassen.

Oft bitten gleich bei der ersten Textseite einige Kinder darum, die Zeichnung „ausmalen“ zu dürfen, andere wollen dies gerade nicht, sondern holen eigenes Zeichenpapier und zeichnen die Bildideen nach, trainieren sich im Nachmachen der verblüffenden Effekte, die man mit so einfachen Spuren erzielen kann.

Geschickt auch die Seiten 6 und 7:


Kinder werden auf Entdeckerreise geschickt, lernen das Innere von Sarahs house und die entsprechenden englischen Wörter kennen. Nach NELLIE zu suchen, dazu muss ich die Schüler meist nicht auffordern. Ihre Neugier und Spannung steigt, wenn ich im entsprechenden Tonfall verkünde „but Nellie was far too cautious to be in the picture“ und dann plötzlich umblättere: „She was a mouse“ - gebannte Augen blicken mich dann an. Gefesselte Aufmerksamkeit. Heutige Lehrerinnen, die so oft mit unkonzentrierten, leicht ablenkbaren fahrig-hippeligen Kindern „kämpfen“, wollen sie Lernstoff in Kinderköpfe bringen, wissen das zu schätzen!

Gute Erfahrungen machte ich auch, wenn ich mit den Kindern vereinbarte, dass zusätzlich zu den üblichen Klassenregeln beim Lesen und Sprechen hier noch eine besondere „NELLIE-Regel“ gilt: Niemand darf vorblättern! Wenn das einige Kinder dann doch nicht schaffen, so würzt das nur die Erwartungshaltung und geschieht, wenn ich meinem Lehrerinnenblick trauen kann, nicht aus Langeweile, Lethargie oder Unterforderung.
„ … far too cautious“ – die Kinder verstehen diesen Ausdruck aufgrund ihrer lebensweltlichen Vorerfahrungen.

Nun aber eine Herausforderung: Kann 7-10jährigen Kindern auf Englisch die starr gesinnungsethische, logisch-rationalistisch verkürzte Prinzipientreue des Nellieschen Weltzugriffes nahe gebracht werden?
Ich glaube, es geschafft zu haben und es war nicht aufwendig. Die Kinder saßen vor ihrem Buch, schauten mich an, wir betrachteten, redeten, Imaginationen entstanden, verknüpften sich, Kinder berichteten von ähnlich strukturierten Personen … bald waren wir bei der Schattenseite eines so geordneten Daseins: „She was lonely“.

Meist machte ich hier eine Zäsur, eine Schulstunde war vorbei, die Bücher wurden eingesammelt. Die allermeisten Kinder wollen weitermachen, aber sie freuen sich, verspricht man ihnen die Fortsetzung für eine baldige nächste Englischstunde.

Nun kommt SAMMY ins Spiel. Die Mädchen sind in ihrem Element, vorabend-soap opera-geschult wie sie allermeistens sind. Aber sie scheinen es, wie ich, nicht nur völlig ausreichend, sondern nahezu wohltuend zu empfinden, wenn anders als im Film und im Fernsehen, die Innigkeit der Beziehung zwischen NELLIE und SAMMY allein durch die verkringelten Mäuseschwänzchen eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht wird. Nun zeichnen fast alle Kinder, gestalten weiter oder um bzw. ahmen die Zeichentechnik nach. Deren Einfachheit, das Gefühl, so kann ich auch zeichnen, beflügelt die Kinder. Während sie zeichnen, lese ich immer wieder die entsprechenden Zeilen vor. Dabei ist oft zu beobachten, dass Kinder mitmurmeln. Effektive, weil multisensorische Phonetikschulung, so würde das der Fremdsprachendidaktiker ausdrücken.

Noch einige Worte zu der besorgten Frage, ob die Kinder mit dem anspruchsvollen Wortschatz und der manchmal komplexen Syntax nicht heillos überfordert sind, sich deswegen langweilen und stören statt zu verstehen.
Ich kann die Frage verneinen, denn kein Lehrer wird bei NELLIE auf die Idee kommen, die Sätze des Buches als semantisch-linguistisches Sprachmaterial zu isolieren  und damit zu degradieren. An sich übersteigt die Sprache natürlich die Dekodierkompetenz der Primarschüler. Aber auf die literarisch anspruchsvolle Sprache Randolphs treffen die Kinder immer als ganzheitlich eingebundene in die verlässlich strukturierte grafische Gestaltung (visuelles Verständnis), den geschulten Lehrervortrag, der auch nonverbale Laute einbindet (auditives Verständnis), dem Beim-Zuhören-Zeichnen-Dürfen und des stimmungsvoll gestalteten (ruhigen und nichtüberfrachteten) Leseortes (kinästhetisch). Auf diesem Wege wird das aktiv-rezeptive Verständnis der Kinder angeregt. Sie „verstehen“.

Immer wieder ist zu beobachten: Kinder sind gefesselt von diesen Zeichnungen, die so ausschließlich nicht nur auf Farbe, infantile Verschnörkelungen und dekoratives Beiwerk verzichten, sondern auch auf die in Comics bzw. Karikaturen üblichen Piktogramme und Symbole (z.B. um Gefühle auszudrücken).
Vielleicht geht die Fülle der rastlos-hektischen mit vielen bildtechnischen Animationen und mit computerisierter Fototechnik gestalteten Filmbilder, Computerspielgrafiken und Kinderzeitschriften einher mit der Verarmung der Imagination, denn Imagination – Vorstellungskraft - braucht man als Konsument der modernen visuellen Waren nicht mehr. Imagination wird voll geladen („vermüllt“?). Randolph bietet hierzu ein Kontrastprogramm.

Schließlich zur „Moral“ der Geschichte, ihrem Gehalt:
Die Geschichte hat ein offenes Ende. Grundschullehrer lassen sich davon sofort beflügeln und entwickeln mit ihrer Klasse zahlreiche weiterführende Unterrichtsaktivitäten: Man kann das Buch weiterschreiben und –zeichnen, einen zweiten Band – Die NELLIE-Familie in der Fremde“ - erstellen, ein szenisches Spiel auf die Bühne bringen, eine Klanggeschichte mit Instrumenten erstellen, eine Bilderreihe, eine Ausstellung, ein NELLIE-Leporello etc. etc..
Aber nicht nur wegen des offenen Endes zeigt sich der NELLIE-plot einer aktiv-produktiven Literaturauffassung zugehörig. Verschiedene Lesarten werden angeregt und sind zugelassen, Randolph bewertet selber nicht, das tun die Leser: Verhält sich NELLIE richtig? Gelten Regeln und Prinzipien immer, ohne Rücksicht auf wechselnde Bedingungen und Sachlagen? Opfert NELLIE ihren Prinzipien nicht ihr Lebensglück? Verhält sich Sammy richtig? Was würde man selber tun? Das Leben bei Sarah genießen und sich immer weiter entfernen vom „natürlichen Mäusedasein“ …? Unweigerlich betritt man das Terrain „Philosophieren mit Kindern“.

Und wie ist das eigentlich mit dem geordneten,  übersichtlichem logischen Denken, das so richtig ist, das es gleich wieder falsch wird (S.45)?

Erwachsene erinnert NELLIES verkürzter Weltzugriff natürlich an das technisch-rationalistische Weltbild des modernen (post)industriellen Zeitalters mit all seinen naturzerstörenden und krankmachenden Implikationen. Einige meiner Schüler brachten NELLIES Auffassung nach wenigen Impulsen meinerseits in Verbindung mit Schule und ihren auch oft starren Abläufen und Regeln. Anknüpfpunkte für den Unterricht ist auch die Unkonventionalität der Katze und der Hausbesitzerin Sarah. Klischees werden entzaubert. Jedes Kind konstruiert eigenständig seine subjektive Interpretationen der Charaktere und der Handlung. Randolph bietet dafür das Feld und die nötigen Inputs. Er regt die Phantasie an, statt diese zu sättigen.

Auch für Pädagogen ist das Buch bedenkenswert, verweist es doch auf die Lebenswelt der Kinder, die dergestalt ist, dass wir Erzieher oft NELLIES Rolle einzunehmen haben und wie sie sagen müssen: „First of all you must learn to fear“ (S.58)

- bspsw. die Medien, die überbordende Konsumwelt, krankmachende Nahrung, zerstörte Umwelt, verführende Werbung, allgegenwärtiger Verkehr,  neuerdings auch Amokläufer usw. Es ist wichtig, Kinder davor zu bewahren, aber sehr leicht ist dabei auch Explorationslust und Entdeckerfreude, „gutes Leben“ also zu ersticken.

Ich kann mir gut vorstellen, dass es gar nicht als Kinderbuch gedacht war, wahrscheinlich auch nicht als Erwachsenenbuch. Vielmehr vermute ich, dass Randolph diese Unterscheidung nicht kennt, sondern nur die zwischen guten und schlechten Büchern (gut sind sie, wenn sie die Imagination der Leser aktivieren, ihnen Raum zu möglichst viel aktiver Interpretation bieten, schlecht, wenn sie Leser mit fertigen Bildern und Aussagen befrachten).

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